Mit 15 läuft Shilan Merizadi* von zu Hause weg. Sie will nicht länger unter der strengen Erziehung ihres muslimischen Vaters leiden. In einer Berliner Pfingstgemeinde beginnt sie, an den christlichen Gott zu glauben.

von Lisa Reiff

Sie will abends mit Freunden weggehen. Sie will Schuhe mit Absätzen tragen, modisch zerrissene Jeans anziehen – vielleicht auch mal ein Top statt immer nur T-Shirts. Sie will wie ihre deutschen Freundinnen Jungs treffen. Aber sie darf nicht. Ihr Vater hat traditionelle, konservative Vorstellungen. Deshalb verbietet er es ihr.

Er will, dass sie in der Koranschule Gebete lernt. Er will, dass sie den islamischen Glauben wie ihre Mutter, die regelmäßig zur Moschee geht und betet, lebt. Sie soll sich auf die Schule konzentrieren und später Lehrerin oder Ärztin werden. Aus Respekt und Angst vor seinen Strafen verbannt sie all ihre Wünsche aus dem Kopf. Sie will gar nicht erst anfangen zu träumen.

Sie flüchtet

Eines Tages hält sie es nicht mehr aus. Sie packt Rougepinsel und ein bisschen Schminke in ihre kleine Umhängetasche und zieht sich so viele Kleider an, wie sie tragen kann. Schnell läuft sie die Treppe hinunter. An der Tür steht ihre Mutter. Sie sagt: “Du kommst aber wieder, oder?” Sie lügt: “Ja Mama, auf jeden Fall, ich komme gleich wieder.”

Die Mutter schließt die Tür. Als sie draußen in der Kälte steht, beginnt es zu regnen. Es ist das letzte Mal, dass Shilan Merizadi ihr zu Hause sieht.

Von Schwerin flieht sie nach Berlin. Sie weiß, dass eine ihrer Schwestern dort lebt. Auch die ist von zu Hause weggelaufen. Heimlich haben die beiden Kontakt gehalten. Weil Shilan noch minderjährig ist, kommt sie in einer anonymen Kriseneinrichtung für muslimische Mädchen unter. Es ist eine Flucht vor ihrer Familie und vor der Religion, dem Islam. Am Tag darauf hätte sie zurück in den Irak gehen sollen.

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Aber ihre neu gewonnene Freiheit hat sie sich anders vorgestellt. Sie fühlt sich schrecklich hoffnungslos an.

“Ich hatte Angst und habe daran gezweifelt, ob es richtig war. In meinen schlaflosen Nächten habe ich mir Sorgen um Mama gemacht, weil ich wusste, dass sie leidet und weint. Es gab keinen Tag, an dem ich meine Familie nicht vermisst habe.”

Ihre Angst vor der Zukunft wächst. Shilan geht nicht mehr zur Schule, will keine neuen Freunde finden. Ziellos dreht sie sich nur um sich selbst und ihre Probleme. Sie sucht Halt in der Religion und setzt sich mit dem Islam auseinander, um sich stärker mit ihrem Gott zu identifizieren.
Doch Vergeblich: Im Koran findet sie sich als Frau, die respektiert und wertgeschätzt werden möchte, nicht wieder.

Sie geht in die Kirche

Shilans Schwester hatte angefangen, in den Gottesdienst zu gehen und ihr davon erzählt. Shilan weiß nicht, was sie in einer Kirche soll. Sie hat ja keine Ahnung vom Christentum. Dann kommt sie doch mit zur Berliner Pfingstgemeinde. Die Bibelstunde verändert ihr Leben.

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Seit diesem Tag geht sie jeden Sonntag in die Kirche, sitzt in der ersten Reihe und hört gebannt zu. Der Raum ist in schummriges Licht getaucht, die Musik untermalt die Predigt. Der Pastor spricht in großen Gesten. Er predigt mit hochgekrempelten Jeans und leuchtend türkisfarbenen Socken. Der Pastor ruft: “Wem viel vergeben wurde, der macht was?” Eine Frau ruft: “Der liebt viel!” Die Gemeinde antwortet: “Amen.”

Die Menschen sind gefesselt von seinen Worten. Immer wieder rufen sie “Amen”, strecken beim Gebet die Arme nach Gott aus. Sie wollen ihm begegnen, greifen mit den Händen nach ihm und spüren seine Anwesenheit. Manche legen die Handflächen aufeinander und werden ganz ruhig, minutenlang formen nur ihre Lippen die Worte des Gebets. Andere fallen laut weinend auf die Knie. Der Pastor segnet jeden einzelnen von ihnen.

Diese intensive Verbindung zur Religion war Shilan anfangs neu. Ihre Familie ist zwar muslimisch, doch nicht alle Familienmitglieder richten sich im Alltag nach den Grundsätzen des Islams. Der Vater betet weder fünfmal am Tag, noch geht er in die Moschee. Die Mutter dagegen ist eine gläubige, “barmherzige” Frau. Die Verschiedenheit der Eltern macht es Shilan schwer, zwischen Kultur und Religion zu trennen.

Im Christentum schließlich hat sie gefunden, wonach sie gesucht hatte.

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Sie lässt sich taufen

Zwei Jahre nach ihrer Flucht nach Berlin entscheidet sie sich für den christlichen Glauben. Die Reaktionen ihrer muslimischen Freunde sind ihr egal.

Die Taufe ist für Shilan einer der schönsten Momente ihres Lebens. Sie steht mit der Pastorin im Wasserbecken, es wird gebetet und Shilan darf erzählen, warum sie den christlichen Glauben annehmen will. Dann wird sie von der Pastorin ins Wasser gezogen, taucht einmal unter.

Als der Vater von ihrer Taufe erfährt, sagt er: „Du bist nicht mehr meine Tochter.“ Die Erinnerung an die Reaktion ihres Vaters tut ihr heute noch weh. Seither hat sie keinen Kontakt mehr zu ihm. Auch mit ihrer Mutter kann sie lange Zeit nur heimlich telefonieren.

Sie heiratet den Pastor

Die Kirche ist jetzt ihre neue Familie. Hier findet sie den Halt, den sie so lange gesucht hat. Vor allem der Pastor gibt ihr Hoffnung.

Irgendwann gesteht er ihr seine Liebe, aber es dauert lange, bis sich Shilan auf eine Beziehung mit ihm einlassen kann. Sie hat zu viele Musliminnen gesehen, die unglücklich in kaputten Beziehungen leben. Frauen, die von ihren Männern beherrscht werden. Shilan will das nicht. Lieber hat sie gar keine Beziehung.

Aber der Pastor ist geduldig. Er hilft ihr, die Vergangenheit zu verarbeiten. Bis sie von sich aus wieder offener auf andere Menschen zugehen kann. Getraut werden die beiden in der Kirche, in der Shilan ihren ersten Gottesdienst erlebt hat.

Eine iranische Pastorin, ein deutscher Pfarrer und zwei afrikanische Pastoren geben dem Paar den Segen.

Sie kann wieder leben

Shilan ist in ihrem neuen Leben angekommen. Sie ist 26, arbeitet in einem Modegeschäft. Sie hat es schon immer geliebt, sich schön anzuziehen. Und sie mag es, anderen Frauen dabei zu helfen, ihren Stil zu finden. Sie trägt Plateausandalen, ihre Nägel sind silbern lackiert. „Jede Frau sollte ihre Persönlichkeit ausdrücken können und selbstbewusst sein“, sagt sie.

Deshalb kümmert sie sich in der Pfingstgemeinde um Mädchen, die aus schwierigen Familienverhältnissen kommen. Sie will ihnen zeigen, dass es Hoffnung gibt, und dass sie zuversichtlich auf ihre Zukunft zugehen.

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Für ihre eigene Zukunft betet Shilan. Sie wünscht sich wieder Kontakt zu ihrem Vater. Vor kurzem hat er sich bei ihrer Schwester gemeldet: Er möchte wieder mit Shilan sprechen.

*Nachname von der Redaktion geändert