Stefan Friedrichowicz arbeitet seit sieben Jahren als Gefängnisseelsorger in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel. Sein Glaube an Gott inspiriert ihn jeden Tag. Doch mit Religion alleine erreicht er die Gefangenen selten.

Von Jana Pecikiewicz

Illustration: Katharina Styrie

 

Im ältesten Gefängnistrakt der JVA Tegel riecht es nach frisch gebrühtem Kaffee. An dem runden Holztisch im Beratungszimmer sitzt Pfarrer Friedrichowicz zwei Häftlingen gegenüber und reicht Kekse herum. „Es ist nicht so, dass die Leute immer seelsorgerischen Rat wollen“, sagt der katholische Pfarrer. Was im Gefängnis zählt, sind Kaffee, Tabak und ein Stück Normalität in einer unnatürlich kleinen Welt.

Wer ein Gespräch mit dem Priester sucht, tippt ihm im Gefängniskorridor auf die Schulter oder ruft im Büro an. Friedrichowicz trägt die Termine nach Relevanz in seinen Kalender ein, der immer gut gefüllt ist. Heute sind zwei Gefangene gleichzeitig zu Besuch beim Pfarrer, sie kennen sich. Im geräumigen Beratungszimmer mit dem dunklen Wandschrank schenkt ein Häftling gerade eine neue Runde Filterkaffee nach. Er ist Ministrant und kennt sich bei Stefan Friedrichowicz gut aus. Selbstverständlich sei er gläubig, weswegen er gerne mit dem Pfarrer spreche. „Aber die Chemie muss auch stimmen“, sagt er. Stefan Friedrichowicz hört interessiert zu, als die Gefangenen von den Konflikten zwischen verschiedenen Nationalitäten erzählen. „Es gibt keine Freundschaft im Gefängnis, oder?“, fragt der Pfarrer ernst. Nach sieben Jahren in der JVA Tegel ist Friedrichowicz pragmatisch geworden. Er weiß, dass er mit komplizierten Gleichnissen und Apostelbriefen nicht punkten kann. „Die Leute haben von der Bibel keine Ahnung“, sagt er.

 

Stefan Friedrichowicz hat eigentlich einen technischen Beruf erlernt. Heute gibt er Gefangenen seelischen Beistand.

 

Manche versuchen über Pfarrer Friedrichowicz Kontakt zu lange vergessenen Verwandten herzustellen. Manche möchten nach Jahren der Leugnung ein Geständnis ablegen. Die Nummer der Kriminalpolizei ist nur im Büro von Friedrichowicz wählbar, in den Zellen gibt es kein Telefon. Friedrichowicz drückt ihnen den Hörer ihn die Hand. „Ich sage immer: Ich würde Ihnen vielleicht raten, dies oder dies zu tun. Wenn die Gefangenen einen guten Plan haben, helfe ich gerne.“ Andere fragen den Pfarrer, ob er ihnen eine Wohnung oder Arbeit vermitteln kann, sobald sie ihre Zeit abgesessen haben. Zehn bis zwölf Leute rufen ihn sogar nach ihrer Entlassung regelmäßig an. „Manche haben wieder Scheiße gebaut, die müssen sich erstmal auspendeln. Andere sagen: ‘Mensch, da und da gibt es ein Theaterstück, in dem ich mitspiele. Willste da nicht hingehen?”

Seelsorger Stefan Friedrichowicz im Gespräch – Klicken Sie auf die Punkte.

Illustration: Katharina Styrie

Der Pfarrer bricht Schokolade auf einem Teller in Stücke. „Ich habe auch etwas mitgebracht“, sagt ein zweiter Inhaftierter und zerteilt pflichtbewusst eine halbe Tafel Nussschokolade auf dem Teller. Er ist doppelt so groß und doppelt so muskulös wie der Pfarrer. Aufmerksam hört er Friedrichowicz zu. Gläubig ist er nicht. Er kommt wegen der Gespräche zu ihm, sucht Ablenkung, möchte mal einen normal möblierten Raum sehen, statt leerer Wände tagein, tagaus. „In zwei Monaten bin ich hier raus“, erzählt er dem Pfarrer nicht ohne Stolz. Es ist nicht sein erstes Mal im Gefängnis.

Nach einer Stunde ist es Zeit zu gehen. Der Name „Gott“ ist erstaunlich selten gefallen. „Seelsorge und Sozialarbeit vermischen sich hier“, sagt Friedrichowicz. „Wenn Glaube zuhause Thema war, dann komme ich dazu, dann werde ich eine Art Personal Trainer“, sagt er. „Aber ich weiß, dass das die Menschen hier um mich rum nicht betrifft.“ Die Gefangenen sind in einem Gebäude auf der anderen Seite des JVA-Geländes untergebracht. Friedrichowicz muss die Gefangenen nach dem Gespräch bis in ihr Anstaltsgebäude bringen, keinen Schritt dürfen sie alleine tun.

Die Justizvollzugsanstalt Tegel ist eine der größten in Deutschland. In ihrem Zentrum steht eine Kirche, nichts Ungewöhnliches für eine historisch gewachsene Anstalt. Zu den Gottesdiensten kommen im Schnitt 20 Leute, an Festtagen sind es auch mal 40. Jeder Gefangene muss eine Kirchenkarte beantragen, wenn er teilnehmen möchte, eine Art Passierschein für den Gottesdienst. Selbst kurze Momente der Freiheit sind im Gefängnis nicht umsonst.

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Stefan Friedrichowicz trägt im Gefängnis dunkle Hosen und ein schwarzes Polohemd, kein Priestergewand, keine blaue Uniform mit dem Aufdruck „Justiz“. Er ist nur seinem Gewissen verpflichtet. „Das Vertrauen ist das Pfund, mit dem ich wuchern kann“, sagt Friedrichowicz. „Der Psychologe hat Krankheitsbilder im Kopf, wittert überall Verrat, Verstellung, Täuschung, das muss er in gewisser Weise auch tun. Ich hab’ dieses Instrumentarium nicht zur Hand. Ich bin Seelsorger in dem Augenblick, wo mich Deine Seele interessiert, wo ich mich öffne“, sagt er.

Auf den langen Fluren des offenen Vollzugs grüßt er jeden Häftling, den er antrifft. In der Hälfte der Fälle wird der Gruß erwidert, ein Bruchteil der Häftlinge kommt ihm mit dem Gruß zuvor. „Der Pfarrer hier ist eine Institution“ sagt Herr R., ein Inhaftierter, der in der kleinen Gefängnisgemeinde die Aufgaben des Küsters übernimmt. Friedrichowicz’ Büro liegt mitten im Gefängnistrakt, nur ein paar verschlossene Türen trennen ihn von den Zellen der Inhaftierten. „Das hier ist ein Mikrokosmos von draußen“, sagt Herr R. „Aber mit dem geballt Negativen.”

Friedrichowicz’ Vorgänger hat seine Arbeit als Seelsorger nach anderthalb Jahren aufgegeben. Diagnose: Burn-Out. Auch Friedrichowicz gehen viele Geschichten nahe. Drogen. Ehrenmorde. Kindesmissbrauch. „Ich hab’ mir anfangs die Frage gestellt: Was predigst Du einem Menschen, der noch sechs Jahre vor der Brust hat, das den erreichen könnte?“ Der Gefängnisseelsorger kennt die Gefangenenakte nicht, ist auf Erzählungen angewiesen. „Seelsorge im Knast heißt, Menschen unvoreingenommen zu begegnen. So wie Jesus. Es macht keinen Sinn da so ranzugehen: Das ist ein dreifacher Mörder. Wenn ich das alles verurteilen würde, könnte ich nicht arbeiten“.

Die Justizvollzugsanstalt Tegel wurde schon im 19. Jahrhundert erbaut. Quelle: JVA Tegel, Raphael Galejew.

 

Schwierige Fälle fand Friedrichowicz schon immer spannend. 25 Jahre lang war er Pfarrer für eine Gemeinde im Märkischen Viertel, einem sozialen Brennpunkt. Dort kamen Eheleute zu ihm, die kurz vor einer Scheidung standen oder Eltern von Kindern, die gemobbt wurden. Drei Jugendlichen aus seinem Firmkurs ist er nach Jahren wieder begegnet. Im Gefängnis.

Um 15.30 Uhr verlässt der Pfarrer die Anstalt. So wird die JVA vor allem von den Bediensteten genannt. Bei den Gefangenen heißt es „Hier“ und „Draußen“. Seit September arbeitet Friedrichowicz nur mit halber Stelle als Gefängnisseelsorger, um in Nähe der Nähe der JVA ein Café aufzubauen. „Eine Schnittstelle zwischen Knast und Freiheit“ sagt Friedrichowicz. „Café Rückenwind“ oder „Café Kontakt“ soll es heißen“, sagt er. Dort sollen sich Inhaftierte und ehemalige Inhaftierte austauschen können, Verwandte treffen, mal da übernachten, „wenn sie gar nicht wissen wohin“, sagt Friedrichowicz. „Es macht mich sehr traurig, dass Gefangene ohne Familie keine Chance haben.”

Wenn der Gefängisseelsorger das Gefängnis verlässt, bleibt das Erlebte nicht hinter den Mauern. Immer wieder kommt es zu Begegnungen, in der U-Bahn, auf Bahnhöfen. „Manche sitzen da mit zwei, drei Dosen“, sagt Friedrichowicz. „Guck mal, der Pfarrer aus Tegel! Der hat uns Tabak gegeben“, rufen die ehemaligen Häftlinge. „Ich glaube an das Gute im Menschen“ sagt Friedrichowicz. Eine Beziehung zu den Gefangenen aufzubauen, ist die Idee, die ihn immer wieder antreibt. Mit dem „Café Kontakt“ wird sie bald auch einen Ort haben.