Früher war der Pfarrer in einer Dorfgemeinde Ansprechpartner in jeder Lebenslage. Doch heute hat längst nicht mehr jedes Dorf einen eigenen Pfarrer. Wenn Gemeinden zusammengeschlossen werden, müssen sich die Seelsorger nicht nur um die Menschen kümmern, sondern auch um die Verwaltung.

von Julia Cousens

 

Sein Auto parkt im ehemaligen Schweinestall. Marcel Borchers blickt durch hohe Fenster auf das alte Backsteingebäude. Das blaue Holztor ist geschlossen. Borchers sitzt am Schreibtisch. Vor ihm stapeln sich Papiere: er muss Rechnungen bezahlen, Gottesdienstpläne erstellen, mit dem Glockenbauer am Telefon über Reparaturen sprechen. Es wird noch dauern, bis er das Auto aus dem Schweinestall holen und damit zu den Menschen seiner Gemeinde fahren kann.

Borchers, 31, hat evangelische Theologie studiert. Er redet mit ruhiger, fester Stimme, seine Sätze formuliert er langsam und bedächtig. Er ist keiner, der sich in den Vordergrund drängt. Trotzdem steht er oft im Mittelpunkt. Marcel Borchers ist Pfarrer im Pfarrsprengel Westprignitz, im äußersten Nordwesten von Brandenburg. Bevor Borchers hierher zog, suchten die Menschen in Westprignitz fast zwei Jahre lang vergeblich einen Pfarrer. „Weil keiner hierher aufs Land wollte“, sagt er.

Zu viele gehen weg

In Westprignitz existierten bis vor kurzem 15 eigenständige Kirchengemeinden. 2015 wurden sie zusammengelegt. Jetzt gibt es noch eine Pfarrstelle für die 1000 evangelischen Kirchenmitglieder. Knapp 20 Kilometer von einem Ende zum anderen. „Wir leiden wie andere Gemeinschaftsstrukturen, wenn die Bevölkerung abnimmt“, erklärt Eva-Maria Menard, Superintendentin in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO). Der demografische Wandel und die Landflucht haben dazu geführt, dass es auf den Dörfern nicht mehr genügend Gemeindeglieder für eine ganze Pfarrstelle gibt. Durch den Zusammenschluss ehemals eigenständigen Kirchengemeinden sind in der EKBO sogenannte Pfarrsprengel entstanden. Etwa 1000 Mitglieder umfasst ein solcher Sprengel.

Fast keiner will hin

Als Borchers in Groß Warnow ins Pfarrhaus einzog, ließ er in Berlin Familie und Freunde zurück. Sein Hobby, das Taekwondo, kann er hier draußen nur schwer ausüben. Es wird für die Kirchen immer schwieriger, Pfarrer für die ländlichen Gebiete zu finden. Gerade  junge Theologen wollen nicht aufs Land. „Es ist nicht die Arbeit auf dem Land, die sie fürchten, es sind soziale Faktoren“, meint Eva-Maria Menard. Etwa die mögliche Einsamkeit, weil die Freunde meist in Städten wohnen, oder die Tatsache, dass man auf dem Land nicht einfach in der Anonymität verschwinden kann. „In Berlin, da kennt Sie vielleicht zwei Straßen weiter schon keiner mehr.“

Auch Marcel Borchers wollte eigentlich nicht aufs Land. Aber die erste Stelle nach dem Vikariat wird den Pfarrern zugewiesen. Borchers wusste, dass die Kirche ihn wahrscheinlich nach Brandenburg schicken würde, weil dort Leute gebraucht werden. Also schaute er sich selbst nach einer Gemeinde um und besuchte Westprignitz. Fünf Stunden lang fuhr er durch die Dörfer, traf sich mit Menschen in den verschiedenen Orten. „Die waren glücklich, dass überhaupt jemand kam und sich das anschaut“, sagt Borchers. „Die wollten wirklich, dass Kirche hier stattfindet. Das war einfach überzeugend.“ Anfang 2017 trat er seinen Dienst an.

Der junge Pfarrer verbringt viel Zeit am Schreibtisch. Er freut sich, wenn der Papierstapel abgearbeitet ist: „Dann kommt die wirkliche Arbeit, für die ich ausgebildet bin und die ich machen möchte.” Borchers steigt dann in sein Auto und kümmert sich um die Menschen in seinem Pfarrsprengel. Er ist zuversichtlich, dass er Wege findet, die Kirche zu den Menschen zu bringen.  Von der Kirche wünscht er sich übergeordnete Strukturen, die ihn und seine Kollegen entlasten.

Superintendentin Menard versteht das Anliegen: „Ich wünsche mir so wenig Verwaltung wie möglich, damit mehr Raum und Zeit ist für inhaltliche Arbeit.”  Ansätze dafür schaffe man auf Kirchenkreisebene. Der Kirchenkreis Prignitz etwa, zu dem auch Borchers Pfarrsprengel gehört, bekommt demnächst einen Baubeauftragten. Der soll den Pfarrern unter die Arme greifen.

Zu wenige kommen nach

Das Nachwuchs-Problem wird sich für die Evangelische Kirche in Zukunft verschärfen. Bis 2030 gehen je nach Region 25% bis 40% der Pfarrer in den Ruhestand. Wegen des demographischen Wandels muss zwar nicht jede frei werdende Pfarrstelle neu besetzt werden. Aber die meisten Kirchen brauchen mehr Neuaufnahmen in den Pfarrdienst als sonst in 15 Jahren. In der EKBO zeichnet sich schon jetzt ab, dass viele der frei werdenden Pfarrstellen nicht wieder besetzt werden können:

Quelle: EKBO: Bericht der Kirchenleitung 2016

„Das ist wirklich ein großes Thema. Da könnte man schon fast verzagen“, meint Eva-Maria Menard. Wie die Zukunft der Kirche auf dem Land aussehen wird, wird sich zeigen.

Marcel Borchers will irgendwann wieder in die Stadt zurück: „Ich bin Berliner und ich glaube, ich bin auch nicht fürs Land geboren.” Aber er fühlt sich hier in Westprignitz immer wohler. Im Sommer stehen einige Taufen und Trauungen an von Leuten aus der Gegend, die in die Stadt gezogen sind. Für große kirchliche Feste kommen sie gerne in die alte Heimat zurück. Borchers wird den Eheleuten den Segen zusprechen, die Kinder in die kirchliche Gemeinschaft aufnehmen und sie dann alle wieder ziehen lassen. Er selbst wird hier bleiben, erstmal. Es gibt noch viel zu tun.